»Du Kind, zu dieser heilgen Zeit«
(GL 254)

Wor­te von Jochen Klep­per 1937; Melo­die von Fried­rich Samu­el Rothen­berg 1939

 

Lied­por­trait von Meinrad Walter

Am Diens­tag, den 11. Janu­ar 1938 ver­trau­te Jochen Klep­per (1903–1942) sei­nem Tage­buch – aus­zugs­wei­se erst­mals ver­öf­fent­licht 1956 mit dem Titel „Unter dem Schat­ten dei­ner Flü­gel“ – zwei auch für die­ses Lied wich­ti­ge Sät­ze an. Die ers­te Bemer­kung umschreibt sein Ver­ständ­nis von Lie­dern: „Kir­chen­lie­der sind immer wie­der nur ein gro­ßes Buch: dahin ver­dich­ten sich alle mei­ne Wün­sche.“ Klep­per fügt sei­ne Lie­der in das „gro­ße Buch“ ein, das von den Psal­men über die alt­kirch­li­chen Hym­nen und Luthers Cho­rä­le bis zur Gegen­wart reicht. Und bei den „Wün­schen“ nennt er eine Fra­ge, die ihn umtreibt: „Die ent­schei­den­de Fra­ge bleibt, ob ich jemals den Weg ins Gesang­buch fin­de.“ Klep­pers Lie­der haben die­sen Weg gefun­den, sogar mit einer öku­me­ni­schen Abzwei­gung! Ein Dut­zend sei­ner Lie­der ste­hen heu­te im Stamm­teil des Evan­ge­li­schen Gesang­buchs und ein hal­bes Dut­zend fin­den wir im katho­li­schen Gotteslob.

Der aus Schle­si­en stam­men­de Jochen Klep­per, 1903 in Beu­then an der Oder gebo­ren, arbei­te­te vor und nach sei­nem erfolg­rei­chen Roman „Der Vater. Roman des Sol­da­ten­kö­nigs“ (1937) jour­na­lis­tisch für Print und Rund­funk. Doch bald mach­te sei­ne Hei­rat mit der ver­wit­we­ten Jüdin Johan­na Stein-Gers­tel (1890–1942) ein beruf­li­ches Fort­kom­men im natio­nal­so­zia­lis­ti­schen Deutsch­land unmög­lich. Die Bedräng­nis der Eltern mit der jün­ge­ren Toch­ter Rena­te, genannt Ren­er­le, aus Han­nis ers­ter Ehe – die älte­re Toch­ter Bri­git­te konn­te kurz vor Kriegs­aus­bruch über Schwe­den nach Eng­land aus­rei­sen – wur­de so uner­träg­lich, dass sie ihrem Leben in der Nacht vom 10. auf den 11. Dezem­ber 1942 selbst ein Ende setz­ten. Es war wohl, inmit­ten aller Schre­cken, ein Ende in tief gläu­bi­ger Hoff­nung auf Vollendung.

Klep­pers geist­li­che Lie­der sind der Inbe­griff biblisch inspi­rier­ter Dich­tung in luthe­ri­scher Tra­di­ti­on. Im Dezem­ber 1937 gelin­gen ihm drei Lie­der, von denen zwei beson­ders bekannt gewor­den sind. Am 18. Dezem­ber ent­steht „Die Nacht ist vor­ge­drun­gen“, das bereits im ers­ten Got­tes­lob stand. Zwei Tage spä­ter, am 20. Dezem­ber, dann „Du Kind, zu die­ser heil­gen Zeit“. Bei­de Lie­der erschie­nen erst­mals gedruckt im Sep­tem­ber 1938 in Klep­pers Lied­samm­lung „Kyrie“. Die Über­schrift unse­res Lie­des heißt „Weih­nachts-Kyrie“. Über­dies stellt Klep­per Wor­te aus Lukas 2,7 vor­an: „Und sie gebar ihren ers­ten Sohn und wickel­te ihn in Win­deln und leg­te ihn ein eine Krip­pe; denn sie hat­ten sonst kei­nen Raum in der Herberge.“

Die­ses Lied besingt – aus­ge­hend auch von den Cre­do-Wor­ten „gebo­ren“ und „gelit­ten“ – die Mensch­wer­dung Got­tes umfas­send: von der Krip­pe über das „gäh­nen­de Grab“ bis zur ewi­gen Schau „von Ange­sicht zu Ange­sicht“, die zum Gesang des neu­en Lie­des „befreit“. Ein Kon­tra­punkt also zur weih­nacht­li­chen Idyl­le! Aber so haben vie­le Künst­ler Weih­nach­ten ver­stan­den. Man den­ke nur an Dürers Holz­schnitt der Geburt Chris­ti mit kreuz­för­mi­gem Gebälk des Stal­les oder an Oli­vi­er Mes­sia­ens „Betrach­tung des Kreu­zes“ inmit­ten einer weih­nacht­li­chen Klaviermusik.

Auch die Lit­ur­gie kennt die­sen Zusam­men­hang, denn „schon am zwei­ten Weih­nachts­tag“ legt sie „die wei­ßen Fest­ge­wän­der ab“ (Edith Stein), um das Gedächt­nis des ers­ten Mär­ty­rers Ste­pha­nus zu bege­hen. Viel­leicht ist Klep­pers Lied, nach einer kur­zen Ein­füh­rung, ein Kyrie-Gesang für den Ste­phans­tag. Eine von Klep­pers kri­ti­schen Zei­len „Die Fei­er ward zu bunt und hei­ter, mit der die Welt dein Fest begeht“ inspi­rier­te Lied­pre­digt könn­te das noch unter­stüt­zen. In der letz­ten Stro­phe wei­tet sich der Ruf um Erbar­men zum „Hosinan­na“: „Herr, hilf doch!“ Das „Hal­le­lu­ja“ schweigt in die­sem Lied, des­sen Autor von den Natio­nal­so­zia­lis­ten mit Schreib­ver­bot belegt war. Die archa­isch wir­ken­de Melo­die des evan­ge­li­schen Pfar­rers und Musi­kers Fried­rich Samu­el Rothen­berg (1910–1997) kommt den Wor­ten Klep­pers entgegen.

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