»Menschen, die ihr wart verloren«
(GL 245)

Ein Weih­nachts­lied aus Müns­ter in Westfalen

Wor­te: Chris­toph Bern­hard Vers­poell 1810; Musik: Chris­toph Bern­hard Vers­poell 1810, Trier 1847

 

Lied­por­trait von Mein­rad Walter

Ob und wie ein Kir­chen­lied sich durch­setzt, viel­leicht nur in einer Regi­on, das ist ein span­nen­der Vor­gang. Die­ses vor etwa 200 Jah­ren ent­stan­de­ne spricht die Spra­che der reli­giö­sen Auf­klä­rung um 1800. Damit steht es ver­mit­telnd zwi­schen der streng theo­lo­gi­schen Sicht älte­rer Lie­der wie „Komm, du Hei­land aller Welt“ oder „Es ist ein Ros ent­sprun­gen“ und den spä­te­ren Bei­trä­gen wie „O du fröhliche“.

Weder Gebet noch Idyl­le also, viel­mehr Auf­for­de­rung und Argu­ment. Ange­spro­chen sind von Anfang an „die Men­schen“, die sich auf Got­tes weih­nacht­li­che Heils­tat in Jesus Chris­tus geist­lich besin­nen wol­len. Zita­te aus der weih­nacht­li­chen Lit­ur­gie klin­gen dabei mit: „Hodie Chris­tus natus est“ („Heu­te ist Chris­tus gebo­ren“) und vor allem der Engel­schor „Glo­ria in excel­sis Deo“ („Ehre sei Gott in der Höhe“) aus dem Weih­nachts­evan­ge­li­um nach Lukas. In die­ses Lob sol­len wir ein­stim­men, so sagen es die Wor­te. Und die dem galan­ten Stil ver­pflich­te­te Musik von Vers­poell führt es unmit­tel­bar aus!

Das Grund­wort die­ses Lie­des heißt „Lie­be“, inspi­riert von der johann­ei­schen Theo­lo­gie im Neu­en Tes­ta­ment. Die ers­te Stro­phe benennt die Inkar­na­ti­on, denn die wich­tigs­te Bot­schaft für alle Men­schen ist die Mensch­wer­dung Got­tes in sei­nem Sohn. Ver­ste­hen kön­nen wir dies aber nur als „Wun­der“ und „Geheim­nis“ (Stro­phe 2), des­sen Bezugs­punkt die Zweina­tu­ren­leh­re ist: in Chris­tus hat Gott alles geschaf­fen (Koloss­erbrief); und den­noch begibt sich der Sohn Got­tes, dem die gan­ze Schöp­fung zu Füßen liegt, in äußers­te Nied­rig­keit, ja Hilf­lo­sig­keit. Die drit­te Stro­phe schärft die­sen theo­lo­gi­schen Gedan­ken, indem sie sogar das „Lei­den“ anklin­gen lässt. In der Pas­si­on setzt sich die Mensch­wer­dung des Got­tes­soh­nes fort, um öster­lich voll­endet zu werden.

War­um, so dür­fen wir fra­gen, schafft Gott Welt und Mensch, und wozu schickt er sei­nen Sohn? Aus uner­mess­li­cher Lie­be zu der ansons­ten ver­lo­re­nen Mensch­heit. Wie aber kann die mensch­li­che Ant­wort dar­auf lau­ten? Das sagt die letz­te Stro­phe im schö­nen Gedan­ken der Gegen­lie­be: „Men­schen! Liebt, o liebt ihn wie­der und ver­gesst der Lie­be nie“. Wir sol­len uns immer wie­der der Lie­be Got­tes erin­nern, wie der Deka­log und Jesus es im „Dop­pel­ge­bot“ der Got­tes- und Nächs­ten­lie­be for­mu­lie­ren. Die­ses Lied ist eine Erin­ne­rung dar­an, wenn es erklingt.

Die über­aus gelun­ge­ne und ein­gän­gi­ge Musik ent­fal­tet sich drei­tei­lig. Auf den hym­ni­schen und in eine neue Ton­art wech­seln­den Anfangs­teil, des­sen vier Tak­te sogleich wie­der­holt wer­den, folgt ein halb so lan­ger, erneut durch Wie­der­ho­lung gepräg­ter Mit­tel­teil in demü­ti­gem Ges­tus, bevor der mar­kan­te Kehr­vers mit drei­fa­cher Stei­ge­rung des „Ehre sei Gott“ sozu­sa­gen den Schluss­ak­kord setzt. Auch ein klas­si­sches Kla­vier­stück könn­te als klei­ne Sona­ti­ne so auf­ge­baut sein – die ori­gi­na­le Fas­sung des Lie­des in Vers­poells Orgel­be­gleit­buch (1810) ver­deut­licht dies mit ihrer Zwei­stim­mig­keit der rech­ten Hand und den pia­nis­ti­schen Figu­ra­tio­nen der lin­ken. Beson­ders reiz­voll ist der har­mo­ni­sche Reich­tum des Lie­des, der am Noten­bild erkenn­bar wird. Obwohl das Lied in D-Dur steht, erklingt nicht nur der leit­er­ei­ge­ne Ton g, son­dern auch gis zur Modu­la­ti­on in die Ober­do­mi­nan­te (A-Dur), außer­dem neben dem Leit­ton cis auch c zur Modu­la­ti­on in die Unter­do­mi­nan­te (G-Dur).

Typisch für die dama­li­ge Zeit sind die melo­di­schen  Zei­len­schlüs­se, die zugleich text­aus­deu­tend wir­ken, zumin­dest bei der ers­ten Stro­phe: ein seuf­zen­der Vor­halt bei „ver­lo­ren“ und „gebo­ren“, dann eine bestä­ti­gend und zie­stre­big den neu­en Grund­ton a errei­chen­de Wen­dung. Bei der Auf­for­de­rung „Lebet auf“ wei­tet sich die Melo­die mit einem uner­war­te­ten Quart­sprung. Der Mit­tel­teil führt melo­disch abwärts und endet halb­schlüs­sig, also ohne den Grund­ton zu errei­chen – ein musi­ka­li­sches Bild des demü­ti­gen Nie­der­fal­lens. Der Schluss­teil jedoch schwingt sich immer höher hin­auf und voll­zieht am Ende die bestä­ti­gen­de Dur-Ton­lei­ter, aller­dings wie­der­um abwärts gerich­tet. Selbst im fan­fa­ren­haft ein­set­zen­den Jubel bleibt die demü­ti­ge Ges­te noch wie ein Echo bewahrt.

Man darf gespannt sein, ob die­ses Lied in den nächs­ten Jah­ren neue Sän­ge­rin­nen und Sän­ger fin­den wird. Obwohl uns 200 Jah­re von die­sem Lied tren­nen und es nicht die Spra­che der Gegen­wart spricht, scheint es auch einer neu­en Ein­füh­rung zugäng­lich. Denn es stellt den Gesang der Engel in den Mit­tel­punkt und for­mu­liert die Weih­nachts­bot­schaft über­zeu­gend als mensch­li­che Ant­wort hierauf.

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