252Liturgisches Jahrbuch 1/2024

Inhalt der Ausgabe 1/2024

 

Zu die­sem Heft

Moni­ka Kling-Witzenhausen
Liturgie(n) von/für/mit Leutetheolog:innen? Impul­se und aktu­el­le Forschungsdesiderate

Mela­nie Wald-Fuhrmann
Empi­ri­sche Stu­di­en zum Erle­ben im Got­tes­dienst. Eini­ge all­ge­mei­ne Über­le­gun­gen und zwei Beispiele

Ste­phan Winter
Sakra­men­ten­theo­lo­gi­sche Fra­gen zur Äbtis­si­nen­wei­he. Zu einer kir­chen­his­to­ri­schen Stu­die von Sarah Röttger

 


 

Editorial 1/2024: ZU DIESEM HEFT

 

In der Lit­ur­gie­wis­sen­schaft wird mehr und mehr empi­risch gear­bei­tet. Damit hält ein Bün­del von Metho­den in die Erfor­schung der got­tes­dienst­li­chen und ritu­el­len Pra­xis Ein­zug, das seit Län­ge­rem schon in Pas­to­ral­theo­lo­gie und Reli­gi­ons­päd­ago­gik zur Anwen­dung kommt. Von weni­gen Aus­nah­men abge­se­hen, ist bis­lang eine Dis­kus­si­on über empi­ri­sche Metho­den inner­halb der Lit­ur­gie­wis­sen­schaft kaum in Gang gekom­men. Sie soll durch die Bei­trä­ge die­ses Hef­tes ange­regt werden.
Die Lit­ur­gie­wis­sen­schaft ist eine vor allem her­me­neu­tisch aus­ge­rich­te­te Wis­sen­schaft. Die star­ke his­to­ri­sche wie theo­lo­gi­sche Prä­gung des Faches vom 19. Jahr­hun­dert her, die seit dem ers­ten Drit­tel des 20. Jahr­hun­derts inten­si­viert wor­den ist, hat die­se Aus­rich­tung eta­bliert. Dazu hat eben­falls bei­getra­gen, dass die Aus­ein­an­der­set­zung mit Tex­ten – d. h. Gebe­ten, lit­ur­gi­schen Ord­nun­gen, kirch­li­chen Doku­men­ten und ande­ren schrift­li­chen Quel­len – lan­ge Zeit im Zen­trum stand und wei­ter­hin ste­hen wird. Die ent­spre­chen­den For­schungs­an­sät­ze sind in den letz­ten Jahr­zehn­ten ver­fei­nert wor­den, u. a. im Aus­tausch mit Debat­ten zur Metho­do­lo­gie in ande­ren Geis­tes- und Kulturwissenschaften.
Die­ser Blick­win­kel wird durch die stär­ker aus den Sozi­al­wis­sen­schaf­ten kom­men­de empi­ri­sche For­schung erwei­tert, die auf unter­schied­li­che Quel­len zurück­greift und sich ver­schie­de­ner Metho­den bedient. Die ent­spre­chen­de For­schung ist bis­lang vor allem auf Fra­gen der Gegen­wart aus­ge­rich­tet und inter­es­siert sich natur­ge­mäß für die Beschrei­bung und Inter­pre­ta­ti­on got­tes­dienst­li­cher Pra­xis. Aber es fin­den sich auch his­to­risch inter­es­sier­te Ansät­ze wie die oral history.
Die Pas­to­ral­theo­lo­gin Moni­ka Kling-Wit­zen­hau­sen beforscht per­sön­li­che Theo­lo­gien empi­risch und erschließt sie sowohl für Wis­sen­schaft wie für Pra­xis. Wer von »Leute­theo­lo­gie« spricht, geht davon aus, dass Men­schen eine per­sön­li­che Theo­lo­gie besit­zen (kön­nen), also per­sön­lich über die Got­tes­fra­ge, all­ge­mein über Sinn­fra­gen und Reli­gi­on reflek­tie­ren. Kon­tex­te, in denen eine sol­che nicht­pro­fes­sio­nel­le Theo­lo­gie sich abspielt, kom­men eben­so in den Blick wie her­aus­for­dern­de Kri­sen­si­tua­tio­nen mensch­li­cher Exis­tenz, die Ein­fl uss auf die »Leute­theo­lo­gie« neh­men. Die­se Theo­lo­gie bleibt mit dem mensch­li­chen Leben in Bewe­gung. Hier gibt es vie­le Schnitt­men­gen zu Lit­ur­gie und Lit­ur­gie­wis­sen­schaft. Kling-Wit­zen­hau­sen berich­tet über Inter­views mit sog. »Schwellenchrist:innen«, deren Sicht auf das kirch­li­che Gesche­hen sie unter­sucht hat. Dabei sei u. a. die Bedeu­tung von Kör­per­lich­keit für die Spi­ri­tua­li­tät ins­be­son­de­re im Umfeld einer von Tech­nik und Vir­tua­li­tät bestimm­ten Welt deut­lich gewor­den. Beten wird als ein eigen­stän­di­ges »Lebens­er­eig­nis « erfah­ren, Lebens­wirk­lich­keit und die Reso­nanzerfah­rung aus Got­tes­diens­ten wer­den zusam­men­ge­führt. Kling-Wit­zen­hau­sen ent­wi­ckelt eine Sicht auf Theo­lo­gie, die hin­schaut und zuhört und sich auf eine gemein­sa­me Got­tes­su­che mit den Men­schen ein­lässt. Bei­de sol­len »von der Welt her« lernen.
/Der Lit­ur­gie­wis­sen­schaft­ler Domi­nik Abel nimmt auf dem Hin­ter­grund einer intra­dis­zi­pli­när ent­wi­ckel­ten Metho­dik und mit neu­em Quel­len­ma­te­ri­al die Fra­ge nach Lei­tung in der Lit­ur­gie zwi­schen Ordi­na­ti­on und Beauf­tra­gung in den Blick. Dabei ver­steht er Pra­xis nicht (allein) als Anwen­dungs­feld, son­dern schreibt ihr eine eige­ne Auto­ri­tät für Theo­lo­gie und dann auch für die kirch­li­che Leh­re zu. Folgt man ihm, erge­ben sich neue Auf­ga­ben für die Prak­ti­sche Theo­lo­gie und damit für die Lit­ur­gie­wis­sen­schaft; zugleich steht damit die Metho­dik lit­ur­gie­wis­sen­schaft­li­cher For­schung vor neu­en Her­aus­for­de­run­gen. Got­tes­dienst­li­che Pra­xis muss in den Blick kom­men, allein ein Abar­bei­ten nor­ma­ti­ver Vor­ga­ben der Kir­che lie­fert hier kei­ne Erkennt­nis­se. Abel speist Erkennt­nis­se aus einem Pra­xis­feld, der Aus­bil­dung von Beauf­trag­ten für Wort-Got­tes-Fei­ern in einem deut­schen Bis­tum, ein, die er mit­hil­fe der Groun­ded-Theo­lo­gy-Metho­do­lo­gie gewon­nen hat. Er stellt das offe­ne For­schungs­de­sign die­ser Metho­do­lo­gie dif­fe­ren­ziert vor, die im For­schungs­pro­zess kon­ti­nu­ier­lich in Ent­wick­lung bleibt. Für sein Pra­xis­bei­spiel spricht er auf der Basis empi­ri­scher Daten, die bei Gottesdienstleiter:innen erho­ben wor­den sind, von einem ver­än­der­ten Ver­ständ­nis von Lit­ur­gie, weist auf die beson­de­re Gewich­tung von Gemein­schaft und auf Rol­len­kon­fl ikte auf­grund einer Rol­len­trans­for­ma­ti­on hin. Erheb­li­che Diver­gen­zen zwi­schen der kirch­li­chen und theo­lo­gi­schen Refle­xi­on und Ein­sich­ten aus dem Pra­xis­feld wer­den deut­lich, die zu Ver­än­de­run­gen im lit­ur­gie­wis­sen­schaft­li­chen Dis­kurs bei­tra­gen werden.
Die Musik­wis­sen­schaft­le­rin Mela­nie Wald-Fuhr­mann wen­det sich dem Erle­ben und damit der Wir­kung der Lit­ur­gie zu. Sie plä­diert für eine empi­ri­sche Erfor­schung des Got­tes­diens­tes, die nicht bei des­sen äuße­ren Bedin­gun­gen ste­hen­bleibt, son­dern von der empi­ri­schen Ästhe­tik her das Erle­ben der Fei­ern­den als Reak­ti­on auf das Gesche­hen des Got­tes­diens­tes ein­be­zieht. Per­for­mance, Rezipient:innen und sozio-kul­tu­rel­ler Rah­men der Lit­ur­gie sind im Blick. In der bei­spiel­haft vor­ge­stell­ten For­schung geht es Wald-Fuhr­mann zum einen um Dimen­sio­nen des Gesangs­er­le­bens in der Mes­se, zum ande­ren um das indi­vi­du­el­le Got­tes­dienst­ver­ständ­nis von Katholik:innen. Es zeigt sich, dass Aus­sa­gen, die in theo­lo­gi­scher Sicht für ein säku­la­res oder ein tra­di­tio­nel­les Ver­ständ­nis des Got­tes­diens­tes ste­hen, sich nicht aus­schlie­ßen müs­sen. Es sind Unter­schie­de mit Blick auf Geschlecht, Reli­gio­si­tät, Wer­te­ori­en­tie­rung fest­zu­stel­len. Wald-Fuhr­mann ver­deut­licht, dass sol­che empi­ri­sche For­schung mit (Liturgie-)Theologie ins Gespräch gebracht wer­den muss. Sie kön­ne einen Bei­trag zur Dis­kus­si­on um die lit­ur­gi­sche Pra­xis leis­ten und Expe­ri­men­te mit neu­en For­men des Got­tes­diens­tes und Ent­schei­dungs­pro­zes­se über die­se For­men begleiten.
Alle drei Auf­sät­ze stel­len deut­lich unter­schied­li­che Vor­ge­hens­wei­sen für empi­ri­sche For­schung am Got­tes­dienst vor. Der Ertrag mit Blick auf die Pra­xis des Got­tes­diens­tes und die ent­spre­chen­de Dis­kus­si­on in Theo­lo­gie und Kir­che ist offen­sicht­lich. Man darf aber eben­so nicht über­se­hen, dass sol­che For­schung für die Theo­lo­gie der Lit­ur­gie und für das Selbst­ver­ständ­nis der Lit­ur­gie­wis­sen­schaft Rück­wir­kun­gen haben wird, die wei­ter zu dis­ku­tie­ren wären. Schließ­lich stellt die­se For­schung auch die Geschichts­for­schung mit ihrer deut­lich ande­ren Quel­len­la­ge vor neue Fra­gen, so bei­spiels­wei­se durch die erwähn­te oral histo­ry als mög­li­ches Lern­feld einer his­to­risch for­schen­den Lit­ur­gie­wis­sen­schaft. Viel­fäl­ti­ge Her­aus­for­de­run­gen also für die Lit­ur­gie­wis­sen­schaft, die eine Dis­kus­si­on der Metho­do­lo­gie und ihrer Impli­ka­tio­nen umso not­wen­di­ger macht.

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