Liturgisches Jahrbuch 1/2024
Inhalt der Ausgabe 1/2024
Zu diesem Heft
Monika Kling-Witzenhausen
Liturgie(n) von/für/mit Leutetheolog:innen? Impulse und aktuelle Forschungsdesiderate
Melanie Wald-Fuhrmann
Empirische Studien zum Erleben im Gottesdienst. Einige allgemeine Überlegungen und zwei Beispiele
Stephan Winter
Sakramententheologische Fragen zur Äbtissinenweihe. Zu einer kirchenhistorischen Studie von Sarah Röttger
Editorial 1/2024: ZU DIESEM HEFT
In der Liturgiewissenschaft wird mehr und mehr empirisch gearbeitet. Damit hält ein Bündel von Methoden in die Erforschung der gottesdienstlichen und rituellen Praxis Einzug, das seit Längerem schon in Pastoraltheologie und Religionspädagogik zur Anwendung kommt. Von wenigen Ausnahmen abgesehen, ist bislang eine Diskussion über empirische Methoden innerhalb der Liturgiewissenschaft kaum in Gang gekommen. Sie soll durch die Beiträge dieses Heftes angeregt werden.
Die Liturgiewissenschaft ist eine vor allem hermeneutisch ausgerichtete Wissenschaft. Die starke historische wie theologische Prägung des Faches vom 19. Jahrhundert her, die seit dem ersten Drittel des 20. Jahrhunderts intensiviert worden ist, hat diese Ausrichtung etabliert. Dazu hat ebenfalls beigetragen, dass die Auseinandersetzung mit Texten – d. h. Gebeten, liturgischen Ordnungen, kirchlichen Dokumenten und anderen schriftlichen Quellen – lange Zeit im Zentrum stand und weiterhin stehen wird. Die entsprechenden Forschungsansätze sind in den letzten Jahrzehnten verfeinert worden, u. a. im Austausch mit Debatten zur Methodologie in anderen Geistes- und Kulturwissenschaften.
Dieser Blickwinkel wird durch die stärker aus den Sozialwissenschaften kommende empirische Forschung erweitert, die auf unterschiedliche Quellen zurückgreift und sich verschiedener Methoden bedient. Die entsprechende Forschung ist bislang vor allem auf Fragen der Gegenwart ausgerichtet und interessiert sich naturgemäß für die Beschreibung und Interpretation gottesdienstlicher Praxis. Aber es finden sich auch historisch interessierte Ansätze wie die oral history.
Die Pastoraltheologin Monika Kling-Witzenhausen beforscht persönliche Theologien empirisch und erschließt sie sowohl für Wissenschaft wie für Praxis. Wer von »Leutetheologie« spricht, geht davon aus, dass Menschen eine persönliche Theologie besitzen (können), also persönlich über die Gottesfrage, allgemein über Sinnfragen und Religion reflektieren. Kontexte, in denen eine solche nichtprofessionelle Theologie sich abspielt, kommen ebenso in den Blick wie herausfordernde Krisensituationen menschlicher Existenz, die Einfl uss auf die »Leutetheologie« nehmen. Diese Theologie bleibt mit dem menschlichen Leben in Bewegung. Hier gibt es viele Schnittmengen zu Liturgie und Liturgiewissenschaft. Kling-Witzenhausen berichtet über Interviews mit sog. »Schwellenchrist:innen«, deren Sicht auf das kirchliche Geschehen sie untersucht hat. Dabei sei u. a. die Bedeutung von Körperlichkeit für die Spiritualität insbesondere im Umfeld einer von Technik und Virtualität bestimmten Welt deutlich geworden. Beten wird als ein eigenständiges »Lebensereignis « erfahren, Lebenswirklichkeit und die Resonanzerfahrung aus Gottesdiensten werden zusammengeführt. Kling-Witzenhausen entwickelt eine Sicht auf Theologie, die hinschaut und zuhört und sich auf eine gemeinsame Gottessuche mit den Menschen einlässt. Beide sollen »von der Welt her« lernen.
/Der Liturgiewissenschaftler Dominik Abel nimmt auf dem Hintergrund einer intradisziplinär entwickelten Methodik und mit neuem Quellenmaterial die Frage nach Leitung in der Liturgie zwischen Ordination und Beauftragung in den Blick. Dabei versteht er Praxis nicht (allein) als Anwendungsfeld, sondern schreibt ihr eine eigene Autorität für Theologie und dann auch für die kirchliche Lehre zu. Folgt man ihm, ergeben sich neue Aufgaben für die Praktische Theologie und damit für die Liturgiewissenschaft; zugleich steht damit die Methodik liturgiewissenschaftlicher Forschung vor neuen Herausforderungen. Gottesdienstliche Praxis muss in den Blick kommen, allein ein Abarbeiten normativer Vorgaben der Kirche liefert hier keine Erkenntnisse. Abel speist Erkenntnisse aus einem Praxisfeld, der Ausbildung von Beauftragten für Wort-Gottes-Feiern in einem deutschen Bistum, ein, die er mithilfe der Grounded-Theology-Methodologie gewonnen hat. Er stellt das offene Forschungsdesign dieser Methodologie differenziert vor, die im Forschungsprozess kontinuierlich in Entwicklung bleibt. Für sein Praxisbeispiel spricht er auf der Basis empirischer Daten, die bei Gottesdienstleiter:innen erhoben worden sind, von einem veränderten Verständnis von Liturgie, weist auf die besondere Gewichtung von Gemeinschaft und auf Rollenkonfl ikte aufgrund einer Rollentransformation hin. Erhebliche Divergenzen zwischen der kirchlichen und theologischen Reflexion und Einsichten aus dem Praxisfeld werden deutlich, die zu Veränderungen im liturgiewissenschaftlichen Diskurs beitragen werden.
Die Musikwissenschaftlerin Melanie Wald-Fuhrmann wendet sich dem Erleben und damit der Wirkung der Liturgie zu. Sie plädiert für eine empirische Erforschung des Gottesdienstes, die nicht bei dessen äußeren Bedingungen stehenbleibt, sondern von der empirischen Ästhetik her das Erleben der Feiernden als Reaktion auf das Geschehen des Gottesdienstes einbezieht. Performance, Rezipient:innen und sozio-kultureller Rahmen der Liturgie sind im Blick. In der beispielhaft vorgestellten Forschung geht es Wald-Fuhrmann zum einen um Dimensionen des Gesangserlebens in der Messe, zum anderen um das individuelle Gottesdienstverständnis von Katholik:innen. Es zeigt sich, dass Aussagen, die in theologischer Sicht für ein säkulares oder ein traditionelles Verständnis des Gottesdienstes stehen, sich nicht ausschließen müssen. Es sind Unterschiede mit Blick auf Geschlecht, Religiosität, Werteorientierung festzustellen. Wald-Fuhrmann verdeutlicht, dass solche empirische Forschung mit (Liturgie-)Theologie ins Gespräch gebracht werden muss. Sie könne einen Beitrag zur Diskussion um die liturgische Praxis leisten und Experimente mit neuen Formen des Gottesdienstes und Entscheidungsprozesse über diese Formen begleiten.
Alle drei Aufsätze stellen deutlich unterschiedliche Vorgehensweisen für empirische Forschung am Gottesdienst vor. Der Ertrag mit Blick auf die Praxis des Gottesdienstes und die entsprechende Diskussion in Theologie und Kirche ist offensichtlich. Man darf aber ebenso nicht übersehen, dass solche Forschung für die Theologie der Liturgie und für das Selbstverständnis der Liturgiewissenschaft Rückwirkungen haben wird, die weiter zu diskutieren wären. Schließlich stellt diese Forschung auch die Geschichtsforschung mit ihrer deutlich anderen Quellenlage vor neue Fragen, so beispielsweise durch die erwähnte oral history als mögliches Lernfeld einer historisch forschenden Liturgiewissenschaft. Vielfältige Herausforderungen also für die Liturgiewissenschaft, die eine Diskussion der Methodologie und ihrer Implikationen umso notwendiger macht.