»Zeige uns, Herr, deine Allmacht und Güte«
(GL 272)

Wor­te: Ray­mund Weber (um 1980); Musik: aus dem Gesang­buch von Johann Atha­na­si­us Frey­ling­hau­sen (1708)

 

Liedportrait von Meinrad Walter

Die­ses Lied des Theo­lo­gen und Ger­ma­nis­ten Ray­mund Weber (geb. 1939), Autor zahl­rei­cher Lied­tex­te und Mit­glied der Grup­pe „Sin­gles“ im Erz­bis­tum Köln, ist ein kom­po­nier­tes Gebet. Gesun­gen wird es auf eine alte Melo­die aus dem Gesang­buch des Hal­len­ser Theo­lo­gen Johann Atha­na­si­us Frey­ling­hau­sen (1708). Jede der drei Stro­phen lebt ganz und gar aus dem Ges­tus des Bit­tens: Zei­ge! Komm! Behü­te! Hör! Sen­de! Wen­de! Und das sind nur die Impe­ra­ti­ve der ers­ten Stro­phe. Wer aber ist ange­spro­chen? Das ist nicht so ein­fach zu sagen. „Herr“ ist Got­tes­na­me für den Schöp­fer (Gott­va­ter) wie auch für den Erlö­ser (Chris­tus) und für den Hei­li­gen Geist, den das Glau­bens­be­kennt­nis den „Herrn“ nennt, der leben­dig macht (Domi­nus et vivificantem).

So führt jede der drei Stro­phen in eine Dyna­mik, die von Gott (Vater) aus­geht und zugleich wei­ter drängt. Die ers­te Stro­phe deu­tet schon beim zwei­ten Abschnitt mit dem Wort „Bei­stand“ (Trös­ter, Para­klet – vgl. Jesu Abschieds­re­den im Johan­nes­evan­ge­li­um 14,26) den Geist an und bit­tet am Ende dann aus­drück­lich um das „Feu­er des hei­li­gen Geis­tes“. Die drit­te nennt am Schluss den für uns hin­ge­ge­be­nen „Sohn“ des Vaters. Und die zwei­te? Hier führt die poe­tisch-theo­lo­gi­sche Ent­wick­lung von Gott hin zu uns, die wir „Werk­zeu­ge“ der gött­li­chen Ver­hei­ßung sind mit dem Ziel, „uns selbst und die Welt zu verwandeln“.

Das Wort „Werk­zeug“ ist eher unge­wöhn­lich in einem Kir­chen­lied. Doch es ist ein Zitat aus der Kir­chen­kon­sti­tu­ti­on „Lumen Gen­ti­um“ des Zwei­ten Vati­ka­ni­schen Kon­zils. Dort heißt es gleich im ers­ten Abschnitt: „Die Kir­che ist ja in Chris­tus gleich­sam das Sakra­ment, das heißt Zei­chen und Werk­zeug für die innigs­te Ver­ei­ni­gung mit Gott wie für die Ein­heit der gan­zen Mensch­heit.“ Beim Stich­wort „die Welt zu ver­wan­deln“ darf man gewiss auch an die Pas­to­ral­kon­sti­tu­ti­on „Gau­di­um et spes“ über die Kir­che in der Welt von heu­te den­ken. Dort ist der wich­ti­ge Grund­satz zu lesen, dass die Kir­che alle­zeit in der Pflicht steht, „nach den Zei­chen der Zeit zu for­schen und sie im Licht des Evan­ge­li­ums zu deu­ten“. Genau dies näm­lich führt zur „Ver­wand­lung“ der Welt, die unter den Vor­zei­chen des Glau­bens und Lie­bens steht und die bei jedem selbst anfängt.

„Zei­ge uns, Herr, dei­ne All­macht und Güte“ – bereits die ers­te Zei­le nennt ein theo­lo­gi­sches Pro­blem das oft­mals schon bedacht wor­den ist. Der evan­ge­li­sche Theo­lo­ge Jür­gen Hen­kys for­mu­liert es in sei­ner Über­tra­gung des Pas­si­ons­lie­des „Holz auf Jesu Schul­ter“ (nach einer nie­der­län­di­schen Vor­la­ge) mit den para­do­xen Wor­ten: „Streng ist sei­ne Güte, gnä­dig sein Gericht.“ In der Phi­lo­so­phie des 20. Jahr­hun­derts hören wir kri­ti­sche Stim­men, vor allem ange­sichts des unvor­stell­ba­ren Lei­des in Krie­gen und ideo­lo­gisch moti­vier­ter Ver­fol­gung. War­um lässt der all­mäch­ti­ge Gott all das zu? Der jüdi­sche Phi­lo­soph Hans Jonas stellt sogar die Ver­bin­dung von Güte und All­macht gene­rell in Abre­de. Unter dem Ein­druck der Scho­ah kann er sich einen all­mäch­ti­gen Gott nicht mehr vor­stel­len. Wenn Gott die­ses mensch­li­che Leid zulässt, obwohl der all­mäch­tig ist und ein­grei­fen könn­te, ist er nicht gütig. Wenn er aber aus eige­ner Ohn­macht nicht ein­greift, ist er nicht all­mäch­tig. Hans Jonas ent­schei­det sich daher für ein Got­tes­bild ohne Allmacht.

Auch die­ses Lied gibt kei­ne vor­schnel­len Ant­wor­ten auf letz­te Fra­gen. Ent­schei­dend ist die Ton­la­ge des Bit­tens. Und Ray­mund Webers „Can­tus fir­mus“ ist letzt­lich die Bit­te um den Geist. Han­deln aus dem Geist, so heißt sei­ne Ant­wort in der zwei­ten Stro­phe. Dies ist ein Han­deln, das sich inspi­rie­ren lässt von den „Wor­ten und Taten“ Jesu, „aus denen wir leben“ (Stro­phe 3). So gelingt eine über­zeu­gen­de Balan­ce von Emp­fan­gen und Tun. Das ers­te ist das Emp­fan­gen. Aber es blie­be unvoll­stän­dig, wenn wir die Hän­de in den Schoß legen und alles dem lie­ben Gott über­las­sen. Gott lässt sein „Reich des Frie­dens“ wach­sen wie die Saat im neu­tes­ta­ment­li­chen Gleich­nis. Aber er will uns dabei als Mit­wir­ken­de, als „Werk­zeu­ge sei­ner Ver­hei­ßung“ sehen.

Ent­stan­den sind die Wor­te die­ses Ver­trau­ens­lie­des um 1980, und zwar, so der Autor Ray­mund Weber, im bewuss­ten Rück­griff auf Grund­ge­dan­ken des Zwei­ten Vati­ka­ni­schen Kon­zils. Am Anfang stand aber gar nicht die­ser Text, son­dern ein skan­di­na­vi­sches Lied von Anders Joel Rundt (1879–1971), zu dem ein deut­scher Wort­laut gesucht wur­de. Ray­mund Weber hat dann nicht das schwe­di­sche Lied über­setzt, son­dern einen neu­en Wort­laut geschrie­ben, der auf die Melo­die von Rundt passt. Die Arbeits­grup­pe Lie­der zum neu­en Got­tes­lob hat nur den Lied­text über­nom­men, aller­dings nicht jene Melo­die. Viel­mehr hat sie die Stro­phen von Weber mit einer alten Melo­die aus dem berühm­ten Hal­len­ser Gesang­buch von Johann Ana­sta­si­us Frey­ling­hau­sen (1670–1739) ver­knüpft, die ein durch­aus flüs­si­ges Tem­po nahe­legt, damit gleich die ers­ten vier Tak­te auf einem Atem gesun­gen wer­den können.

Die Melo­die in e-Moll weist einen fast solis­ti­schen Ges­tus auf, ist aber den­noch für den Gemein­de­ge­sang geeig­net. Wir begeg­nen in ihr den typisch baro­cken Mög­lich­kei­ten musi­ka­li­scher Gestal­tung. Gleich die ers­ten Noten ent­fal­ten ein gro­ßes Span­nungs­po­ten­zi­al, weil der unbe­kann­te Kom­po­nist den Leit­ton dis nicht zum Grund­ton e zurück­führt, son­dern über das expres­si­ve Inter­vall dis-g zum fis. Somit erklin­gen zwei nach baro­cker Auf­fas­sung „lei­den-machen­de“ Halb­ton­schrit­te gleich zu Beginn: e-dis und g-fis. Als Aus­ruf (excla­ma­tio) wirkt dann der Oktav­sprung im zwei­ten Takt, wor­auf sich eine typisch baro­cke Seuf­zer­fi­gur (Sus­pi­ra­tio) anschließt. Die nächs­ten vier Tak­te sind eine gro­ße, mit Vor­hal­ten durch­setz­te Abwärts­be­we­gung, deren wich­tigs­te Töne c-a-fis-(a-fis-)dis den span­nungs­volls­ten Akkord beschrei­ben, der auf der Grund­la­ge die­ser Ton­art e-Moll denk­bar ist. Der Abge­sang nach dem Dop­pel­strich inten­si­viert das Aus­drucks­spek­trum vor allem mit rhyth­mi­schen Mit­teln wie etwa der drän­gen­den Punk­tie­rung auf „(die) Angst in uns (wen­de)“. In den bei­den letz­ten Tak­ten kommt die Melo­die, die zuvor noch nie beim Zei­len­schluss den Grund­ton erreicht hat­te, mit einer fast besänf­ti­gen­den drei­tak­ti­gen Ges­te zur Ruhe. Deren Rah­men­in­ter­vall dis-g ent­spricht exakt der aus­drucks­star­ken Ton­fol­ge des ers­ten Tak­tes, nun aber in glei­ten­der Bewe­gung und ohne jeg­li­chen Sprung. Zuvor aber erklingt eine ähn­lich expres­si­ve Ton­fol­ge wie am Beginn: h-fis-g-dis-e heißt sie jetzt. Betrach­tet man sie näher, ent­puppt sie sich sogar als die Ton­fol­ge des Anfangs, nur von rück­wärts gele­sen und beim ers­ten Ton eine Oktav höher begin­nend! Die­ses musi­ka­li­sche Spiel heißt „Krebs­gang“ – eine Art musi­ka­li­scher „Umkehr“, die Kom­po­nis­ten wie Johann Sebas­ti­an Bach sogar als musi­ka­lisch-theo­lo­gi­sche Voka­bel der Umkehr verwenden.

Kein gerin­ge­rer als der Schrift­stel­ler Tho­mas Mann hat die­sem kom­po­si­to­ri­schen Prin­zip in sei­nem Roman „Bud­den­brooks“ sogar ein lite­ra­ri­sches Denk­mal gesetzt. Der Lübe­cker Orga­nist Edmund Pfühl hat­te „eine Melo­die kom­po­niert, wel­che vor­wärts und rück­wärts gele­sen, gleich war, und hier­auf eine gan­ze ‚krebs­gän­gig‘ zu spie­len­de Fuge gegrün­det“, was er sei­nem klei­nen Orgel­schü­ler Han­no Bud­den­brook auf der Orgel­em­po­re erklärt. Sein Fazit aber heißt mit hoff­nungs­lo­sem Kopf­schüt­teln: „Es merkt es nie­mand.“ – Ein sol­ches „es merkt es nie­mand“ ist das schlimms­te, was der Kir­chen­mu­sik pas­sie­ren kann. Doch viel­leicht ist es gar nicht ent­schei­dend, wie vie­le sol­che Kunst expli­zit „mer­ken“, es gibt auch ein eher intui­ti­ves Wahr­neh­men von musi­ka­li­scher Qua­li­tät. In die­sem Lied steckt sol­che Qua­li­tät, in Wort und Ton, und des­halb soll­ten wir es neu ein­füh­ren und singen.

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