260Liturgisches Jahrbuch 1/2023

Inhalt der Ausgabe 1/2023

 

Edi­to­ri­al
Die »Lit­ur­gi­sche Bewe­gung« im Katho­li­zis­mus und Pro­tes­tan­tis­mus des 19. und 20. Jahr­hun­derts. Aktu­el­le For­schungs­the­men und -perspektiven

Wolf­gang Eßbach
Das Inter­es­se an Riten. Zum reli­gi­ons­so­zio­lo­gi­schen Ent­ste­hungs­kon­text der Lit­ur­gi­schen Bewegung

Bene­dikt Brunner
Die Lit­ur­gi­sche Bewe­gung im Pro­tes­tan­tis­mus des 20. Jahr­hun­derts. For­schungs­stand und Perspektiven

Jürgen Bärsch
»… eine sorg­fäl­ti­ge Aus­wahl bra­ver und gut geschul­ter Jun­gen«. Minis­tranten­päd­ago­gik als Anlie­gen der Lit­ur­gi­schen Bewe­gung zwi­schen 1945 und 1962

Win­fried Haunerland
Gut Ding will Wei­le haben. Anmer­kun­gen zum Hand­buch­band »Wis­sen­schaft der Liturgie«

Buch­be­spre­chun­gen

 


 

Editorial 1/2023
Die »Liturgische Bewegung« im Katholizismus und Protestantismus des 19. und 20. Jahrhunderts. Aktuelle Forschungsthemen und -perspektiven
(Auszug)

 

Bereits seit 2018 jäh­ren sich die Erschei­nungs­jah­re der Schrif­ten, die zur For­mie­rung der Lit­ur­gi­schen Bewe­gung des 20. Jahr­hun­derts bei­tru­gen, eine nach der ande­ren zum ein­hun­derts­ten Mal. Genannt sei­en Roma­no Guar­di­nis »Vom Geist der Lit­ur­gie« (1918), »Vom Sinn der Kir­che« (1922) und »Lit­ur­gi­sche Bil­dung« (1923); Odo Casels »Die Lit­ur­gie als Mys­te­ri­en­fei­er« (1923); Josef Andre­as Jung­manns »Die Stel­lung Chris­ti im lit­ur­gi­schen Gebet« (1925); die ers­te Fas­sung von Pius Parschs »Das Jahr des Hei­les« (1923) und die Grün­dung der Zeit­schrift »Bibel und Lit­ur­gie« (1926) durch ihn; Ilde­fons Her­we­gens »Alte Quel­len neu­er Kraft« (1920) und sei­ne bio­gra­fi­sche Skiz­ze über den hl. Bene­dikt (1926). Gleich­zei­tig mit die­sen und wei­te­ren katho­li­schen Bei­trä­gen ent­stan­den auf evan­ge­li­scher Sei­te unter ande­rem das »Ber­neu­che­ner Buch« (1926), zahl­rei­che Schrif­ten u. a. von Fried­rich Hei­ler, Gus­tav Men­sching, Karl Bern­hard Rit­ter und Wil­helm Stäh­lin und zudem nicht nur Rudolf Ottos viel­re­zi­pier­te Schrift über »Das Hei­li­ge«, son­dern auch sei­ne Bei­trä­ge zur Reform lit­ur­gi­scher Pra­xis, etwa »Zur Erneue­rung und Aus­ge­stal­tung des Got­tes­diens­tes« (1925). Im wei­te­ren Umfeld der Lit­ur­gi­schen Bewe­gung sind zudem Theo­lo­gen wie Karl Adam und Erik Peter­son zu nen­nen, die zum lit­ur­gie­be­zo­ge­nen Dis­kurs ihrer Zeit beitrugen.
Aktu­ell gibt es aber nicht nur im begrenz­ten Bereich eines christ­lich-theo­lo­gi­schen Inter­es­ses an Lit­ur­gie, son­dern auch weit dar­über hin­aus Anlass, die 1920er Jah­re neu zu the­ma­ti­sie­ren. Bereits seit Jah­ren lässt das Erstar­ken des Rechts­po­pu­lis­mus in Euro­pa danach fra­gen, wie­viel unse­re Zeit mit der Wei­ma­rer Repu­blik gemein­sam hat. Die Pan­de­mie­er­fah­rung ließ zudem an die ver­hee­ren­den Fol­gen der sog. Spa­ni­sche Grip­pe erin­nern. In die­sem Jahr pro­vo­zie­ren die Infla­ti­on und ein Krieg in Euro­pa, der ver­meint­lich selbst­ver­ständ­li­che Sicher­hei­ten und Gren­zen erschüt­tert, den Rück­blick auf das »Kri­sen­jahr« 1923.
Nicht von unge­fähr ent­stand die Lit­ur­gi­sche Bewe­gung in den viel­fäl­ti­gen Umbrü­chen und Kri­sen­er­fah­run­gen um 1918. Ein neu­es Inter­es­se an Reli­gi­on ging bereits mit dem Aus­bruch des Ers­ten Welt­kriegs ein­her und führ­te auch noch in der Wei­ma­rer Repu­blik zu einer Band­brei­te an ver­än­der­ten oder gänz­lich neu­en reli­giö­sen Selbst­ver­ständ­nis­sen und Pra­xen. Aber nicht nur Kri­sen­wahr­neh­mun­gen und emp­fun­de­ner Sicher­heits­ver­lust ab 1918, son­dern bereits die längst ent­stan­de­ne und wei­ter im Wan­del befind­li­che Lebens­welt der Indus­trie­ge­sell­schaft ließ neue reli­giö­se Aus­drucks­for­men ent­ste­hen. In Ver­bin­dung mit kon­fes­si­ons­spe­zi­fi­schen Fak­to­ren ebne­te das neue Inter­es­se an Reli­gi­on und Ritu­al der Wei­ter­ent­wick­lung und Neu­ak­zen­tu­ie­rung lit­ur­gie­be­zo­ge­ner Refor­men, die bereits Ende des 19. Jahr­hun­dert in den Orden ent­wi­ckelt wor­den waren, einen frucht­ba­rer Boden. Im Pro­tes­tan­tis­mus ermög­lich­ten der Zusam­men­bruch des Kai­ser­reichs und die Tren­nung von Staat und Kir­che eine insti­tu­tio­nel­le Reor­ga­ni­sa­ti­on und damit ver­bun­de­ne Neu­ent­wür­fe in Theo­lo­gie und ritu­el­ler Pra­xis. Im Katho­li­zis­mus mein­ten nicht weni­ge Intel­lek­tu­el­le, der poli­ti­sche Sys­tem­wech­sel und die Ero­si­on bis­he­ri­ger Plau­si­bi­li­tä­ten brin­ge die Chan­ce mit sich, die römisch-katho­li­sche Kir­che als die letz­te Kon­stan­te im Cha­os pro­fi­lie­ren zu kön­nen. Der schma­le Weg zwi­schen kon­fes­sio­na­lis­ti­schem Tri­um­pha­lis­mus und katho­li­scher Selbst­re­form wur­de längst nicht von allen als Grat­wan­de­rung emp­fun­den. Viel­mehr gin­gen lit­ur­gie­be­zo­ge­ne Reform­ent­wür­fe oft­mals mit anti­pro­tes­tan­ti­scher Pole­mik ein­her. In bei­den Kon­fes­sio­nen steht zudem neben ver­ein­zel­ten Ver­su­chen, zur demo­kra­tisch- poli­ti­schen Bil­dung ins­be­son­de­re der Jugend aus christ­li­cher War­te bei­zu­tra­gen, die ten­den­zi­ell über­wie­gen­de Bereit­schaft theo­lo­gi­scher und lit­ur­gi­scher Reform­ak­teu­re, den unter­schied­li­chen völ­ki­schen, rechts­kon­ser­va­ti­ven, natio­na­lis­ti­schen oder natio­nal­so­zia­lis­ti­schen Rufen nach einer »neu­en Zeit« mora­lisch-reli­giö­sen Kre­dit zu geben. In den ein­hun­dert Jah­ren seit­dem ist die lit­ur­gie­be­zo­ge­ne For­schung nicht ste­hen geblie­ben. Nur ein klei­ner Über­blick über aktu­el­le Per­spek­ti­ven kann in die­sem Heft gebo­ten wer­den. Unter ande­rem die hier ver­sam­mel­ten Autoren – aber auch wei­te­re dar­über hin­aus – haben neue For­schungs­im­pul­se zum The­ma gesetzt. […]

Lea Lerch

 

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