266Liturgisches Jahrbuch 2/2022

Inhalt der Ausgabe 2/2022

 

Edi­to­ri­al

Ste­phan Winter
Die Wis­sen­schaft vom Kul­tus: eine »wah­re und begeis­ter­te Dar­stel­lung«. Lit­ur­gik­hand­bü­cher des 19. Jahr­hun­derts als Modernisierungsphänomen

Bene­dikt Kranemann
Dank­sa­gung – Gna­den­ga­be – Mah­nung. Bene­dik­tio­nen in popu­lä­ren Lit­ur­gi­ken des 19. Jahrhunderts

Jür­gen Bärsch
Got­tes­dienst als The­ma der sonn­täg­li­chen Chris­ten­leh­re. »Klei­ne Lit­ur­gi­ken« für die kirch­li­che Ver­kün­di­gung im 19. Jahrhundert

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Editorial 2/2022: ZU DIESEM HEFT

Das 19. Jahr­hun­dert ist in vie­ler­lei Hin­sicht lit­ur­gie­wis­sen­schaft­lich immer noch eine ter­ra inco­gni­ta. Zwar gibt es mitt­ler­wei­le eine Rei­he von Stu­di­en zur Lit­ur­gie in der Zeit der katho­li­schen Auf­klä­rung und ist auch man­che Ent­wick­lung des Got­tes­diens­tes zum Ende des Jahr­hun­derts hin unter­sucht wor­den. Aber weder kann bereits ein umfas­sen­des Gesamt­bild von des­sen Lit­ur­gie gezeich­net wer­den, noch sind die Fol­gen des »lan­gen 19. Jahr­hun­derts« (Eric Hobs­bawm) für die lit­ur­gi­sche Erneue­rung im 20. Jahr­hun­dert und, um noch wei­ter aus­zu­grei­fen, bis in die Gegen­wart hin schon detail­liert und wis­sen­schaft­lich abge­si­chert zu beschrei­ben. Dies liegt u. a. dar­in begrün­det, dass die­se Ent­wick­lungs­pha­se in der Lit­ur­gie­ge­schichts­schrei­bung nach dem Zwei­ten Vati­ka­ni­schen Kon­zil oft­mals als Nega­tiv­fo­lie für die eige­nen Reform­be­stre­bun­gen her­hal­ten muss­te. Aber mit dem Ver­weis bei­spiels­wei­se allein auf eine star­ke Nor­mie­rung der Lit­ur­gie, die Roma­ni­sie­rung der letz­ten ver­blie­be­nen Diö­zesan­lit­ur­gien und eine zuneh­men­de Kle­ri­ka­li­sie­rung ist die­ses Jahr­hun­dert sicher­lich noch nicht umfas­send beschrieben.
Was macht es aber so inter­es­sant? Zunächst han­delt es sich um eine Zeit, die durch viel­fäl­ti­ge intel­lek­tu­el­le, gesell­schaft­li­che, kirch­li­che und theo­lo­gi­sche Ver­än­de­run­gen geprägt ist. »Auf­klä­rung«, »Roman­tik« und »Restau­ra­ti­on « sind in die­sem Kon­text wich­ti­ge Stich­wor­te. Die Aus­wir­kun­gen von Säku­la­ri­sa­ti­on, Indus­tria­li­sie­rung, Vor­märz und Revo­lu­ti­on, Kul­tur­kampf auf Kir­che, Seel­sor­ge und eben nicht zuletzt die Lit­ur­gie sind nicht zu über­se­hen. Die Migra­ti­ons­be­we­gun­gen, die bei­spiels­wei­se Men­schen aus Ost­eu­ro­pa ins Ruhr­ge­biet füh­ren, haben auch Kon­se­quen­zen für Seel­sor­ge, Got­tes­dienst, Kir­chen­bau usw. Neben einer Hoch­zeit der Betei­li­gung an Got­tes­dienst und Wall­fahrt auf der einen steht auf der ande­ren Sei­te, dass man­che Bevöl­ke­rungs­tei­le durch die­se reli­giö­se Pra­xis nicht mehr ange­spro­chen wer­den. Im grö­ße­ren lit­ur­gie­ge­schicht­li­chen Umfeld ver­dient die­se Zeit auch des­halb an Inter­es­se, weil es um das Vor­feld der Erneue­rungs­be­we­gung im 20. Jahr­hun­dert geht, das viel genau­er ana­ly­siert wer­den muss, als bis­lang geschehen.
Eine Quel­len­sor­te der For­schung zu die­ser Pha­se sind die lit­ur­gi­schen Bücher, und zwar sowohl die ver­blie­be­nen diö­ze­sa­nen als auch die römi­schen Lit­ur­gi­ca. Aber es ist auch für die­se Zeit not­wen­dig, ande­re Quel­len in den Blick zu neh­men, die Ein­blick in die kirch­li­che und theo­lo­gi­sche Pro­gram­ma­tik wie in die lit­ur­gi­sche Pra­xis ermög­li­chen. Dafür sind in jün­ge­rer Zeit in die­sem Jahr­buch Bei­spie­le genannt wor­den.1 Eine Quel­len­sor­te, die in die­sem Zusam­men­hang zu beach­ten ist, sind klei­ne Lit­ur­gi­ken: Sie wur­den für die Hand von Kir­chen­mit­glie­dern zur eige­nen Lek­tü­re und lit­ur­gi­schen Bil­dung geschrie­ben, eben­so soll­ten sie Kle­ri­kern für die Unter­wei­sung von »Lai­en« die­nen. Die Adres­sa­ten wer­den in die­sen popu­lä­ren Lit­ur­gi­ken manch­mal als Gebil­de­te beschrie­ben, manch­mal rich­ten sich die Bücher an Schü­ler bzw. sind für den Schul­un­ter­richt als Infor­ma­ti­ons­quel­le gedacht. Eini­ge Dut­zend die­ser Bücher sind bis­lang iden­ti­fi­ziert und biblio­gra­fisch erfasst wor­den. Zumeist wur­den sie seit der Mit­te des Jahr­hun­derts ver­öf­fent­licht. Die Ver­fas­ser sind über­wie­gend Kle­ri­ker, Pries­ter aus ver­schie­de­nen Regio­nen des deut­schen Sprach­ge­biets. Die Bücher decken unter­schied­li­che lit­ur­gi­sche Fei­ern ab, erklä­ren in der Regel eher in knap­per Form und sind sprach­lich auf Ver­ständ­lich­keit ange­legt. Ihr Ziel ist die Erschlie­ßung der Lit­ur­gie, wie sie nach offi­zi­el­len Vor­ga­ben zu fei­ern war, nicht eine Ver­än­de­rung oder gar Reform. Es han­delt sich bei die­sen Büchern um ein Mit­tel lit­ur­gi­scher Bildung.
Die­se Bücher ste­hen im Kon­text der theo­lo­gi­schen Debat­te über Lit­ur­gie zur Mit­te des 19. Jahr­hun­derts. Die­se wie­der­um schlägt sich u. a. in der Ent­ste­hung gro­ßer und eben­falls noch zu wenig beach­te­ter Lit­ur­gi­ken wie der von Jakob Fluck und Johann Bap­tist Lüft nie­der, die in jeder Hin­sicht theo­lo­gie­ge­schicht­lich wich­ti­ge Wer­ke dar­stel­len, wie auch in der Lit­ur­gik von Franz Xaver Schmid, die bereits mehr Beach­tung erfah­ren hat. Die­se drei Bücher erschließt Ste­phan Win­ter in sei­nem Bei­trag. Er über­nimmt mit sei­nem (des­halb auch etwas umfang­rei­che­ren Auf­satz) zugleich die Ein­füh­rung in den his­to­ri­schen Kon­text. Von die­sem Ansatz gelingt es ihm, die Lit­ur­gi­ken als »(römisch-)katholische Moder­ni­sie­rungs­in­stru­men­te« zu lesen: als spe­zi­fi­schen Bei­trag zur »Dia­lek­tik von Kon­tin­genz­öff­nung und -schlie­ßung« (Andre­as Reck­witz). Win­ter stellt damit die Bücher wie ihre Ver­fas­ser vor und ord­net sie geis­tes­ge­schicht­lich ein. – Bene­dikt Kra­ne­mann geht der Fra­ge nach, wie in den so genann­ten Popu­lär­lit­ur­gi­ken Bene­dik­tio­nen erklärt wer­den. Damit kommt eine Lit­ur­gie in den Blick, die in der katho­li­schen Auf­klä­rung kri­tisch gese­hen wur­de. Wel­che Akzep­tanz erfah­ren die Bene­dik­tio­nen spä­ter im Jahr­hun­dert? Was las­sen die klei­nen Lit­ur­gi­ken über die Pra­xis erken­nen? Der Auf­satz wen­det sich u. a. der Seg­nung von Wöch­ne­rin­nen zu, die in den Lit­ur­gi­ken häu­fig the­ma­ti­siert wird. – Im drit­ten Auf­satz die­ses Hef­tes unter­sucht Jür­gen Bärsch, wie in den Quel­len der Got­tes­dienst zum The­ma der Chris­ten­leh­re wird. Schon damit wird ein für die Lit­ur­gie­wis­sen­schaft neu­es The­ma auf­ge­grif­fen. Nach einer kur­zen grund­le­gen­den Ein­füh­rung in die Chris­ten­leh­re ana­ly­siert Bärsch die lit­ur­gie­päd­ago­gi­schen Anlie­gen eini­ger Autoren, ins­be­son­de­re zu Kir­chen­jahr und Sakramentenfeier.
Ins­ge­samt ver­deut­li­chen die Auf­sät­ze, dass man­ches Anlie­gen und man­che Fra­ge­stel­lung, die bis­lang als Inno­va­ti­on der Lit­ur­gi­schen Bewe­gung betrach­tet wur­den, bereits frü­her in der römisch-katho­li­schen Kir­che und der Theo­lo­gie ver­folgt wur­de. Auch in die­ser Hin­sicht loh­nen klei­ne wie Gro­ße Lit­ur­gi­ken sowie wei­te­re ein­schlä­gi­ge Lite­ra­tur die­ser Zeit die wei­te­re Beach­tung sei­tens der Liturgiewissenschaft.

1 Vgl. dazu die Bei­trä­ge von Jür­gen Bärsch, Chris­tel Köh­le-Hezin­ger, Sebas­ti­an Eck, Bern­hard Schnei­der und Moni­ka Unzei­tig in LJ 70 (2020).

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